In einer Zeit, in der junge Erwachsene immer später von zu Hause ausziehen, stellen sich sowohl Eltern als auch ihre Nachkommen neuen Herausforderungen. Die Verschiebung des Lebensalters, in dem junge Menschen das Elternhaus verlassen, hat erhebliche Auswirkungen auf die familiären Beziehungen. Während einige Eltern Schwierigkeiten haben, ihre Kinder loszulassen, leiden diese unter einem Mangel an Selbstvertrauen und Eigenständigkeit. Diese Entwicklung wird durch veränderte Erziehungsmethoden begünstigt, die eine stärkere Kontrolle betonen und weniger Raum für eigenverantwortliches Handeln lassen.
Die Verlängerung des Zusammenlebens zwischen Eltern und Kindern ist ein Phänomen, das sich insbesondere in westlichen Gesellschaften manifestiert. So leben laut Statistiken noch über 50 Prozent der 24-Jährigen in der Schweiz bei ihren Eltern, während in Deutschland etwa 30 Prozent der 25-Jährigen das gleiche Bild zeichnen. Diese Zahlen spiegeln nicht nur wirtschaftliche Faktoren wie hohe Mieten oder längere Ausbildungszeiträume wider, sondern auch eine veränderte Dynamik zwischen den Generationen wider. Experten wie Beate Schwarz von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften sehen hier einen positiven Aspekt: Besser werdende Beziehungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern führen zu einer größeren Nähe. Doch diese Kehrseite birgt auch Gefahren.
Eine solche Situation erlebte auch Newsha Djavadipour-Sigari, deren Töchter unerwartet das Elternhaus verließen, während sie selbst im Quarantäne lag. Dieses Ereignis markierte für sie einen tiefgreifenden Einschnitt, der lange nachwirkte. Psychologisch betrachtet, ist jedoch genau dieser Abschied notwendig, um ein reifes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern zu entwickeln. Der Schlüssel liegt dabei bereits in der Kindheit: Eine sichere Bindung und schrittweise Förderung der Eigenständigkeit sind Voraussetzungen für einen gelingenden Ablösungsprozess.
Allerdings zeigt sich ein Trend, dass viele Eltern ihre Kinder heutzutage stärker kontrollieren. Diese Entwicklung wird von Fachleuten kritisch gesehen, da sie die Fähigkeit der Kinder beeinträchtigt, selbständig zu werden. Psychotherapeutin Angela Lee-Schultze beobachtet beispielsweise Fälle extremer Überwachung, wie bei einer Mutter, die ihren Sohn beim Skifahren permanent überprüfte. Solche Kontrollmechanismen basieren oft auf Ängsten der Eltern, die ihrerseits wiederum Unsicherheiten bei den Kindern hervorrufen.
Trotz dieser Hindernisse bleibt das Ziel der westlichen Erziehung klar: die Förderung von Individualität und Autonomie. In anderen Kulturen jedoch können traditionelle Werte wie filiale Verpflichtungen die Ablösung erschweren. In Ländern wie Italien oder Griechenland ist es üblich, dass Kinder enger mit ihren Eltern verbunden bleiben. Auch Newsha berichtet aus ihrer persischen Kultur, dass eine enge Bindung zur Familie normal sei und dass Kinder traditionell eine große Verantwortung für ihre älteren Eltern übernehmen.
Auf Augenhöhe miteinander stehen heute Newsha und ihre Töchter. Obwohl der Abschied schmerzhaft war, hat sie gelernt, ihre Rolle neu zu definieren. Ihre Arbeit bietet ihr neue Perspektiven und ermöglicht es ihr, ihr Leben außerhalb der Elternrolle zu gestalten. Auch wenn die Liebe weiterhin präsent ist, so hat sie doch gelernt, Distanz zuzulassen und ihre Kinder als selbstbestimmte Individuen anzuerkennen – ein Prozess, der letztlich beiden Seiten zugutekommt.