Ende April verbreitete sich eine beunruhigende Nachricht, die weite Kreise in der ostdeutschen Industrielandschaft zog: Der Chef des US-amerikanischen Unternehmens Dow, Jim Fitterling, äußerte sich über die Prüfung der Werke in Böhlen und Schkopau. Die mögliche Konsequenz seiner Überlegungen: ein Betriebsstillstand oder eine komplette Schließung. Diese Ankündigung, obwohl vordergründig nur wenige Hundert Mitarbeiter betreffend, löste eine Welle der Besorgnis aus.
Die Drohung mit dem Produktionsstopp bei Dow löste eine Schockwelle aus, die weit über die direkt betroffenen Werke hinausreicht. Gewerkschaftsführer Michael Vassiliadis warnte eindringlich, dass nicht nur „Hunderte gut bezahlter und tariflich sauber geregelter Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, sondern die industrielle Zukunft einer ganzen Region“. Die Anlagen von Dow bilden das Herzstück eines komplexen Chemieverbundes. Sie spalten Rohstoffe in grundlegende Komponenten auf, die von zahlreichen nachgeschalteten Unternehmen für ihre Produktion verwendet werden. Ein Ausfall dieser zentralen Funktion würde die gesamte Wertschöpfungskette in Mitleidenschaft ziehen und könnte das Überleben vieler Betriebe gefährden.
Bitterfeld-Wolfen, eine Stadt mit 40.000 Einwohnern, ist ein Paradebeispiel für die enge Verflechtung der regionalen Wirtschaft mit der Chemieindustrie. Rund 15.000 Menschen arbeiten im dortigen Chemiepark, viele davon in Zulieferbetrieben, die eng an die Chemiebranche gekoppelt sind. Schätzungen der Nordostchemie-Verbände zufolge sichert jeder Arbeitsplatz in der Chemie drei weitere in der Region. Die Stadt plant für 2025 mit erheblichen Einnahmen aus der Gewerbesteuer, die zusammen mit dem Anteil an der Einkommenssteuer fast 60 Prozent der gesamten Einnahmen ausmachen. Sollte Dow seine Produktion einstellen und andere Unternehmen folgen, wären die finanziellen Grundlagen der Stadt und des gesamten Landkreises in Gefahr, was einen verheerenden Dominoeffekt auf weitere finanzschwächere Kommunen hätte. Diese prekäre Lage alarmiert die Geschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände, Nora Schmidt-Kesseler, die von einer „beispiellosen Situation“ spricht.
Die ostdeutsche Chemiebranche kämpft mit besonderen Schwierigkeiten, da die hohen Energiekosten sie gleich an drei Fronten belasten. Erstens leidet die Chemieindustrie allgemein unter den gestiegenen Preisen für Strom und Gas, die seit dem Konflikt in der Ukraine drastisch gestiegen sind. Dies führt dazu, dass Unternehmen wie Dow ihre europäischen Standorte auf Rentabilität überprüfen müssen, wobei deutsche Niederlassungen aufgrund der Energiepreise oft schlechter abschneiden. Die historische Übernahme ostdeutscher Betriebe durch Dow verstärkt diesen Effekt im Osten. Zweitens ist die Grundstoffchemie, die in Ostdeutschland stark vertreten ist, besonders energieintensiv und daher extrem anfällig für Preisschwankungen. Dies führte zu einem deutlichen Rückgang der Auslastung, insbesondere im Osten. Ein Ausfall des zentralen Dow-Crackers würde die Abhängigkeit von teuren Transporten per Lkw und Schiene erhöhen und die CO2-Bilanz verschlechtern. Zudem sind viele ostdeutsche Unternehmen Mittelständler oder Tochtergesellschaften großer Konzerne, was sie anfälliger für Schließungen macht. Drittens belasten die hohen Energiekosten die kommunalen Haushalte. So verzeichnete der Landkreis Anhalt-Bitterfeld, maßgeblich durch gestiegene Personal- und Zinskosten, einen dramatischen Rückgang der finanziellen Spielräume. Dies schränkt Investitionen in die Zukunft ein und droht, eine wichtige Einnahmequelle zu verlieren, die tarifgebundene und gut bezahlte Arbeitsplätze sichert. Die Situation birgt erhebliche politische Risiken.
Angesichts der prekären Lage fordern Gewerkschaften und Politiker einhellig Maßnahmen zur Sicherung der Chemieindustrie. Michael Vassiliadis appelliert an Dow, dem Konzern genügend Zeit für die Suche nach einem Käufer für die Anlagen einzuräumen. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff betont die Notwendigkeit, wieder attraktive Standortbedingungen zu schaffen, und verweist auf erste Schritte der Bundesregierung und der EU. Auch der sächsische Wirtschaftsminister Dirk Panter fordert eine Senkung der Energiepreise und Bürokratieabbau, um Dow zum Bleiben zu bewegen. Die Zeit drängt, da die Amerikaner ihre Entscheidung bis Ende Juli treffen wollen und ihre Prognose von „Leerlauf oder Stilllegung“ bisher unverändert bleibt.